Richard Mabey, Die Heilkraft der Natur.
Berlin: Matthes & Seitz Berlin, 2018
aus: Kapitel 6, Der Joker — Seite 223–225.
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Meine Ankunft im Tal hatte sich fast gejährt, da hörte ich von der Schleiereule. Eine Bekannte gab mir den Tipp, sie selbst hatte ihn von ihrem Fensterputzer, der darin gar nichts Besonderes sah: Jawohl, er beobachte fast jeden Abend eine weiße Eule, wenn er seinen Hund in dem kleinen Seitental hinter Botesdale spazierenführe.
Am nächsten Tag zur Abendstunde war ich dort. Ich ließ mich nieder, wo ich meinte, dass sie wohl jagen könnte: im langen Gras an einem Bach, wo auch neu gepflanzte Bäumchen standen. Ich muss wohl sehr still gesessen haben. Eine Ricke betrachtete mich von jenseits der Hecke. Nur wenige Meter entfernt ließ sich eine Waldschnepfe ins Wasser gleiten, putzte mit Nachdruck ihr Gefieder. In der Dämmerung erschienen ihre beiden hellen Rückenstreifen wie losgelöst, zwei sich schlängelnde Aale. Vierzig Minuten nach Sonnenuntergang war plötzlich die Schleiereule da. Unvermittelt flog sie aus dem Gras auf, als habe sie die ganze Zeit schon niedergeduckt dort gesessen und Mäuse hinuntergewürgt. Leicht wie Distelflaum stieg sie empor; ihr Kopf eilte dem Körper voraus wie ein zweites Wesen. Zwischen den Bäumchen beschleunigte sie jeweils den Flügelschlag. So sichtete sie das Gras, durchkämmte es nach Beute. Das letzte Licht des Tages drang durch ihre Flügel, setzte die dichten Handschwingen gegen die fast durchsichtigen Armschwingen ab. Einen Moment lang wollte es scheinen, als habe der Vogel zwei Flügelpaare, eines noch im Tag befangen und eines schon in der Nacht, und treibe damit das Dämmerlicht vor sich her. Dann hielt die Eule abrupt inne, schwebte mit gesenktem Stoß auf der Stelle und stürzte sich erneut hinab ins Grasversteck.
Auf dem Heimweg schienen mir die Zweige wie von schwachgoldenem Lichtschein umhüllt und die Luft erfüllt von huschenden Vogelschatten — all die Spezies, auf die ich im Traum nicht zu hoffen gewagt hatte. Hier spielte sich das Leben abends ab. Auf den Abflug der Regenpfeifer folgten die großen Schlafbaumdramen. Gewaltige Saatkrähen- und Dohlenschwärme strömten verlässlich spätnachmittags zu einem mir neuen Schlafplatz. Wo immer sie Zwischenstopps einlegten, verdunkelten sie die Felder. Über einem See gut zehn Meilen westlich beobachtete ich die Abendmanöver des Federwilds. Pfeif- und Löffelenten warfen sich schwirrend in den Himmel, tobten am Wassersaum entlang und dann quer davon über Häuser und Felder. Es war eine triumphale, mitreißende Vorstellung. Andere Vögel ließen sich ebenfalls begeistern. Ich sah einen einsamen Star inmitten eines Pfeifentenschwarms und ein Dutzend Krickenten zwischen Stockenten — jeden Haken, jede Kurskorrektur flogen sie mit.
Eines Abends fuhren wir erneut zu dem Ort, an dem wir im Vorjahr erstmals die Kraniche entdeckt hatten. Die Luft war lau, wir folgten demselben Weg durchs Gebüsch wie damals, an den Bootshäusern vorbei und um die Rückseite des Sees. Auf den Feuchtwiesen standen Graugänse und ein paar Bekassinen. Dann tauchten über dem Ried zwei-, dreihundert Meter zur Rechten fünf riesenhafte graue Vögel auf: Kraniche im Anflug auf ihre Schlafplätze. Im Tiefflug ging es vorbei an den Fenstern der Uferbungalows, zu einer Kette aufgereiht, die sich hob und senkte wie Meeresdünung, so nah, dass die rote Kopfplatte und die schwarze Halszeichnung zu erkennen waren. Sie hielten sich auf der Leeseite der Dünen, bis sie außer Sicht waren. Wir folgten ihnen bis zu einer stillgelegten Mühle, deren Flügel sich scharf gegen die untergehende Sonne abzeichneten. Sie blieben verschwunden, und eine Zeitlang sämtliche Vögel mit ihnen.
In dem Moment jedoch, als wir uns auf den Heimweg machen wollten, kamen zwei Schleiereulen aus der Mühle geflogen, die Flügel halb angelegt, als habe jemand sie mit Schwung geworfen. Sie begannen, die Marsch abzurastern, zwei wunderschön unterschiedlich gefärbte Vögel, der eine blass honigfarben, der andere mit einer Zeichnung wie Intarsien in dunklem Kastanienbraun. Und als sei dies das Startsignal für das Dämmerungsritual, begann der Himmel sich zu füllen. Rohrweihen, gewohnt spielerisch vor dem Wind, steuerten ihre Schlafplätze im Gesträuch an. Zehn weitere Kraniche glitten auf dem Weg zu verborgenem Flachwasser über das Ried hinweg. Einen unglaublichen Moment lang hatte ich zeitgleich zwei direkt auf mich zuhaltende Kraniche, drei windschnittige Kornweihen und — im Hintergrund — Tausende Kurzschnabelgänse auf ihrem Weg zu den Feldern im Blick.
Es war wie eine Halluzination: eine Vision East Anglias, wie es typischer nicht sein konnte — Windmühlen, Röhricht, weiter Abendhimmel — und dazu solche Vogelscharen, dass man sich in der afrikanischen Savanne wähnen mochte. Und es war auf noch andere Weise kosmopolitisch, eine Versammlung, die das tief am Ort Verwurzelte mit den großen weltumspannenden Strömen des Lebens verband. Dass die Kraniche 1979 hier blieben, anstatt nach Spanien weiterzuziehen, war unerhört. Die Rohrweihen, anstatt nach Süden zu wandern, verweilen inzwischen das ganze Jahr. Die Kurzschnabelgänse kommen von Island und Grönland und werden im Frühjahr dorthin zurückkehren. Die Kornweihen kommen aus Nordeuropa und Holland, auch sie werden zurückfliegen. Dennoch — genau hier hatte einst das letzte Paar in Norfolk gebrütet, und ich träume davon, dass sie wie die Kraniche irgendwann wieder bleiben.
Wie sind diese Abendrituale zu verstehen? Gängige Erklärungen der Schlafkolonien verweisen sehr plausibel auf ein Schutzsuchen in der Menge und auf Informationsaustausch zu Futterplätzen. Doch wie so oft in der Natur scheint das, was hier geschieht, zu extravagant, zu überbordend, um einfach nur zweckgerichtet zu sein. Die gewaltigen Ansammlungen von Vögeln, die langen geselligen Flugmanöver, das Durchmischen der Arten — all dies legt den Gedanken nahe, dass es noch um etwas Anderes geht. Wäre es vermenschlichend, sich vorzustellen, dass sich auch andere Vögel als nur Rotmilane ungern allein in die Nacht begeben, dass die Schauflüge dazu dienen, sich vor Einbruch der Dunkelheit der anderen zu versichern? Ein Stück Gemeinsamkeit, der vertraute Anblick eines Mitreisenden, ein Fremder zwar und dies wohl auf immer, aber auf eben demselben Heimweg.
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