Leseprobe aus: Mirabel Osler, Bitte mehr Chaos! – Ein sanfter Appell (1987)

Buchcover David Wheeler, Hrsg., Garten­lektüre: Die schönsten Ge­schichten englischer Garten­enthusiasten. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2015

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Mirabel Osler, Bitte mehr Chaos!

Wie vielen Gärten, die man sich anschaut, fehlt doch das gewisse Etwas, das eine zusätzliche sinnliche Dimension beisteuern konnte, und dies nur der lieben Ordnung halber. Den disziplinierten Gartner charakterisiert anscheinend eine Tendenz zu geradezu aseptischer Präzision. Ich mochte sogar einen Schritt weiter gehen und behaupten, dieser Gärtner sei männlichen Geschlechts. Im Garten ist der Mann, so will ich meinen, von einem stärkeren Drang zur Ordnung getrieben als die Frau. Unerlässlich scheinen die mit geradezu zwanghafter Präzision geschnittenen Beetkanten, wie ein Haarschnitt aus Vorkriegszeiten. Mit einem gefährlich scharfen, halbrunden Blatt stechen diese Gärtner den Rasen ab, auf dass er sich dem Lineal des Schuljungen beuge, und klauben auch noch das letzte zehn Millimeter lange Halmstück mit Handfeger und Kehrblech auf. Gibt man ihnen eine elektrische Heckenschere in die Hand, sind binnen Sekunden all jene feinen Triebe an Weißdorn- und Geißblatthecke gemeuchelt, die zu dem zarten Gartenzauber der ersten Junitage beitragen.

  Übereifrige Reglementierung lässt die Seele des Gartens verkümmern. „Kopf ab!“ergeht der Befehl für Farne, Frauenmantel und Storchschnabel. Sauberkeitsfanatismus, Gleichmaß als Maß aller Dinge, und schon sind Stimmung und Sinnlichkeit dahin. Was bleibt? Pflanzen, und dazwischen offener Boden – eine schreckliche Langeweile aus Farbklecksen und nackter Erde. So wird der Garten zur Pflanzfläche reduziert. Schritt – eins, zwei. Stopp – eins, zwei. Herabschauen (Vorausschauen wäre sinnlos, denn dort ist nichts Geheimnisvolles, das einen locken konnte) – herabschauen und die Pflanze betrachten. Jede für sich genommen ist zweifellos fabelhaft. Der Pflanzenliebhaber fühlt sich hier im Himmel. Doch wo bleibt die Verlockung? Und wo, herrje, ist die Verführung, wo bleibt die Gänsehaut auf den Armen?

  Natürlich hat auch die Präzision ihre Berechtigung. Architektonische Linien, eingebracht durch Hecken, Mauern, Wege und Formgesträuch, sind das Gerüst eines jeden Gartens. Doch der wahre Künstler lässt zu, dass sich in diesem Rahmen Wildes, Losgelassenes entwickelt. Es gibt Leute, die sagen, einzig im Garten liege die Kontrolle bei ihnen. Gut. Aber warum übertreiben? Für den ursprünglichen Entwurf, für die Grundgestalt ist Kontrolle wesentlich, und unerlässlich ist ruchlose Willensstärke, sobald man etwas Schauderhaftes gepflanzt hat und den Mut aufbringen muss, es wieder herauszureißen. Doch ab einem gewissen Punkt sollte man die Zügel locker lassen, auf dass ein wenig ursprüngliche Lebendigkeit die Regie übernehme.

  Zu den ebenso undramatischen wie verlässlichen kleinen Gartenfreuden zählt es, wenn Phlox und Akelei an unvorhergesehener Stelle aus Samen aufspringen, wenn Pfennigkraut, kleinen Rinnsalen gleich, Steinkanten weichzeichnet oder der Kambrische Scheinmohn einen Winkel mit strahlendem Kadmiumgelb füllt und ringsum die versamten Himmelsleitern ihre intensiv blauen Rispen wie farbgewordenen Duft emporrecken.

  Der Cottage-Garten zeichnete sich durch solche Eigenschaften aus. Aus der schieren Notwendigkeit heraus, Baumobst und Kräuter, Kohl und Stachelbeeren zu ziehen, hatte sich seine Bepflanzung auf natürliche Weise entwickelt; dazwischen standen Stockrosen und Silberblatt, Glockenblumen und Nelken. Wie selten sieht man heute einen echten Cottage-Garten! Er ist weit schwieriger zu realisieren als eine Planung vom Reißbrett, denn er erfordert Intuition und die Gabe, den Dingen ihren Willen zu lassen.

  Im Mittelmeerraum ist so etwas heute noch zu finden. Ausrangierte Dosen, die zuvor Feta, Oliven oder Salzfisch enthielten, werden blau oder weiß angemalt und übervoll mit Geranien bestückt, um dann ganz unaffektiert auf Stufen und Mauern, unter Bäumen und auf Fensterbrettern ihren Platz zu finden. Alte Dosen mit Basilikum stehen auf der Türschwelle, aber nicht zum Küchengebrauch, denn das Basilikum wird heilig gehalten – stattdessen für das Dufterlebnis, wenn man beim Abschied einen Trieb für den Reisenden pflückt. Unter der Rebe, die den Brunnen beschattet, wachsen Auberginen, Melonen, Zucchini, dazwischen eingestreut knallbunte Zinnien. Eine namenlose Rose steht – des Duftes wegen – neben einer Bank, über der ein Feigenbaum Schatten und Früchte spendet. All dem liegt eine Mischung aus gesundem Menschenverstand und Unbefangenheit zugrunde – ein natürlicher Instinkt, von praktischer Notwendigkeit inspiriert.

   Wir dagegen – wir sind oft viel schlauer, als es uns bekommt. Wir lesen zu viele Bücher, schreiben zu viel auf. Wir liegen zu lange, Gärten planend, im Bad. Haben wir die Fähigkeit zum impulsiven Handeln verloren? Haben wir die Intuition für den Fluss der Dinge verloren, für das, was richtig und was falsch ist? Die Fähigkeit, die Dynamik eines Gartens wahrzunehmen, in dem Dinge ihren Platz von selbst finden?

  Und dies bringt mich zu einer anderen Beobachtung, die – so meine ich – in Bezug steht zu meiner anfänglich beschriebenen Sehnsucht nach ein wenig Anarchie hie und da. Man hat nämlich den Eindruck, als verbringe der ordentliche Gärtner niemals sitzend Zeit in seinem Garten. Er ist so voller Hingabe und Konzentration, dass der Garten ihn völlig in den Fängen halt – so sehr, dass seine Leidenschaft nur dann gestillt wird, wenn er in ihm auf Knien liegt. Wir hingegen, die unseriösen, ungehörigen Leute, die, die pflanzen und sich treiben lassen, die schnippeln und schlendern – wir verplempern ständig kleine Portionen unserer Zeit, indem wir im Garten herumhocken. Hier eine Bank für den Sonnenaufgang, da ein Platz zum Insichgehen, dort ein kleiner Sitz, wo wir uns dem sublimen Duft der Abendluft hingeben oder auch schlicht über einen fernen Strauch nachsinnen. Wir sind jene unorthodoxen Gärtner, die nicht den Zwang verspüren, die Lichtnelken zwischen den Ritterspornen herauszuziehen; wir können völlig entspannte Minuten verträumen, ohne nervös zu werden angesichts von Hahnenfuß, der unserer Küchenschelle auf den Leib rückt. Die Freiheit zu trödeln geht einher mit dem Gärtnern auf gut Glück, sie passt zu jenem gewissen Quäntchen Chaos, das ich dringend in mehr Garten sehen möchte.

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